Es gibt zu viele Chöre ohne Profil
Kornwestheim. 27 Jahre lang ist Edgar Kube Vorsitzender der Sängerlust Kornwestheim gewesen, seit Juli vergangenen Jahres steht er dem Baden-Württembergischen Sängerbund vor, der sich heute in Kornwestheim zu seiner Jahreshauptversammlung trifft. Susanne Mathes hat sich aus diesem Anlass mit dem 64-jährigen PR-Berater über das Singen, über Überlebensstrategien für Chöre und über seine Ziele im Verband unterhalten.
Heute schon ein Lied auf den Lippen gehabt, Herr Kube?
Nein.
Warum denn nicht?
Ich hatte keinen Anlass und keine Gelegenheit dazu.
Kommt Ihnen nicht ab und zu ein Lied in den Sinn, das Sie vor sich hinträllern?
Ehrlich gesagt: Dass ich einfach so vor mich hinsinge, das kommt eher selten vor.
Singen scheint derzeit en vogue zu sein, das Magazin „Geo“ hat diesem Thema unter der Überschrift „Glückserlebnis Singen“ sogar seine März-Titelgeschichte gewidmet. Wie finden Sie das?
Ich habe die Geschichte nicht gelesen, aber es freut mich natürlich. So etwas eröffnet vielleicht neue Chancen für Chöre.
Allerdings wird das Singen heutzutage gerne unter dem Mehrwert-Aspekt gesehen: Singen soll klüger, gesünder, sozialverträglicher machen. Darf man sich noch zu sagen trauen, dass man singt, weil es einem einfach Spaß macht?
Das würde ich sogar an die oberste Stelle setzen. Wenn Gesundheit, Intelligenz, soziale Kompetenz oder was auch immer als Sahnehäubchen obendrauf kommen, ist es schön. Aber in allererster Linie soll es Spaß machen. Die Musikalität ist in den vergangenen Jahrzehnten jedoch leider stark verloren gegangen.
Haben Sie das Gefühl, das ändert sich?
Ja. Es gab eine Zeit, da war es sehr schwer, auch jüngere Leute für das Singen zu interessieren oder sogar zu begeistern. Jetzt merken wir, dass sie sich wieder eher ansprechen lassen.
Wie sind Sie selbst zum Singen gekommen?
In meiner Kindheit hat meine Oma, bei der ich viel war, viel gesungen. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass die mal was gearbeitet hat, ohne dabei zu singen. Ich habe mitgesungen, kannte auch viele von den Liedern. Auch meine Mutter hat viel gesungen. Im Kindergarten wurde ständig gesungen. Später war ich im Schulchor, erst im Sopran, dann im zweiten Bass. Während des Studiums habe ich aber lange Zeit nichts mehr in dieser Richtung gemacht. Erst später bin ich durch einen Zufall an die Sängerlust Kornwestheim geraten.
Was für ein Zufall ist das gewesen?
Ein Nachbar, der Vorsitzender des Vereins war, hat mich erst zu den Konzerten eingeladen und später zu mir gesagt, ich könne doch mal zur Probe kommen. Das habe ich getan, bin dann hängen geblieben und habe mich auch gleich für ein Amt breitschlagen lassen.
Obwohl Sie in Ihrer Kindheit und Jugend gerne gesungen haben, haben Sie den Anstoß von außen gebraucht?
Ja. Dass Leute von selbst in einen Chor kommen, geschieht eher selten. Es gibt auch hier in Kornwestheim Leute, die von sich aus Initiative ergriffen und aktiv einen Chor gesucht haben, aber meistens braucht es einen Anstoß.
Sie waren nicht nur lange Zeit Vorsitzender der Sängerlust, sondern sind seit Juli vergangenen Jahres auch Vorsitzender des Baden-Württembergischen Sängerbundes. Was können Sie in dieser Position bewegen?
Ehrlich gesagt: Ich weiß es noch nicht. Ich habe bis jetzt ja noch nicht viele Möglichkeiten gehabt, ich bin ja erst ein gutes halbes Jahr in diesem Amt. Ich kann nur sagen, was ich zu bewegen versuche. Wir sind ein relativ kleiner Sängerbund mit rund 30 Mitgliedsvereinen und etwa tausend Aktiven. Was ich erreichen möchte, ist die Stärkung der Jugendarbeit. Es gibt vier oder fünf Vereine mit Kinder- oder Jugendchor, und ich weiß von einigen, dass sie den Schritt auch wagen wollen. Die will ich unterstützen – mit Hilfe von denen, die die Erfahrung haben, beispielsweise die Sängerlust Kornwestheim, die sowohl einen Jugend- als auch einen Kinderchor hat.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen dem Baden-Württembergischen und dem Schwäbischen Sängerbund?
Ich versuch's mal ganz kurz. Es gab früher zwei Sängerbewegungen nebeneinander: einerseits den Deutschen Sängerbund, in dem unter anderem der Badische, der Schwäbische oder der Hessische Sängerbund organisiert waren, die bürgerlichen Sängerbünde. Die ältesten darunter sind schon vor rund 150 Jahren entstanden. Dann, kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sind aus der Arbeiterbewegung heraus die ersten Arbeiter-Gesangvereine entstanden – in Kornwestheim mit Beschäftigten der Salamander-Schuhfabrik. Die ersten Arbeiter sind damals zum Liederkranz gegangen. Als es immer mehr Arbeiter wurden, hat der Liederkranz, der sich damals aus Bauern und Handwerkern zusammensetzte – das nehmen mir die Kollegen vom Liederkranz nicht übel, die wissen das – beschlossen, dass man kein „Lumpenpack“, also keine Arbeiter, mehr aufnehmen wollte.
So viel zum Thema „Singen verbindet“ …
… und dann haben die Arbeiter beschlossen, selbst einen Chor aufzumachen. So ist die Sängerlust entstanden. Und für diese Arbeiterchöre gab's dann eben auch Dachverbände – den Württembergischen Arbeiter-Sängerbund, den Deutschen Arbeiter-Sängerbund. Nach 1933 wurden die alle verboten, aber nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Ersten, die sich wieder gründen durften, schon ein paar Wochen nach Kriegsende. Da gab es dann auch Bemühungen, einen einzigen Dachverband ins Leben zu rufen. Das kam nicht zu Stande, was aber vor allem an persönlichen Eitelkeiten und nicht an ideologischen Gründen lag. Also haben sich beide Dachverbände wieder gegründet. Derjenige, zu dem wir gehören, allerdings nicht mehr unter dem Namen Arbeiter-Sängerbund, sondern zunächst als Württembergischer, später dann als Baden-Württembergischer Sängerbund. Die beiden Dachverbände haben vergangenes Jahr fusioniert zum Deutschen Chorverband. Präsident ist Dr. Henning Scherf, der frühere Bürgermeister von Bremen. Die Teilverbände existieren aber weiterhin unabhängig voneinander.
Warum eigentlich? Das Singen ist doch keine hochpolitische Angelegenheit mehr. Wieso geht man noch getrennte Wege?
Man arbeitet sogar sehr eng zusammen. Es gibt auch keine Eifersüchteleien. Wir sind mit unseren rund 30 Vereinen ein extrem kleiner Verband, der Schwäbische Sängerbund hat einige tausend Vereine. Da würden wir total untergehen. Das wollen wir nicht – was einerseits mit einigen alten Traditionen zusammenhängt, andererseits mit der Idee, dass wir versuchen wollen, aus dem Kleinen etwas Feines zu machen. Alles ist sehr individuell, alle kennen sich untereinander, es ist nicht so stark regionalisiert. Es gibt keinen Anlass, sich zu diesem Zeitpunkt einem der großen Verbände – Schwäbischer oder Badischer Sängerbund – anzuschließen. Solange es funktioniert, wollen wir eigenständig bleiben.
Tickt Ihr Verband denn anders als die anderen? Worin unterscheiden Sie sich?
Beim Baden-Württembergischen Sängerbund sind inzwischen einige junge Chöre, die mit der Gesangvereinstradition absolut nichts am Hut haben und sie auch nicht einführen wollen – auch wenn sie als Vereine organisiert sind, weil sie sonst keine Förderung erhalten. Wir haben zum Beispiel einen Bach-Chor, einen Gospel-Chor, einen Stuttgarter Frauenchor, der Rock, Pop und Musical mit Showelementen macht, oder einen Tübinger Chor, der politische, kritische Lieder singt. Da ist ein Potenzial, das sich organisieren will, sich in den großen Sängerbünden aber keine Heimat vorstellen kann. Ich erinnere mich daran, dass vor gar nicht so langer Zeit ein Karlsruher Schwulenchor die Aufnahme in den Badischen Sängerbund gerichtlich erzwingen musste. Ohne Verbandszugehörigkeit gibt es nämlich keine staatlichen Fördermittel. Dieser Chor wusste nicht, dass es uns gibt, und wir haben zu spät von ihm erfahren. Ich wäre dafür gewesen, ihn aufzunehmen – wobei ich nicht ausschließen will, dass das auch bei uns ganz schöne Diskussionen ausgelöst hätte. Aber ich hätte mich dafür eingesetzt, das durchzufechten.
Sie wollen das Profil Ihres Verbandes schärfen. Wie?
Da sind wir derzeit auf der Suche. Wohin der Weg genau führen soll, weiß ich noch nicht, und ich will es natürlich auch nicht alleine festlegen. Darum wird es am Samstag bei der Hauptversammlung gehen. Ich lege eine Konzeption mit einigen Ideen vor, und dann will ich mal sehen, was die Freunde dazu meinen. Gut möglich, dass der eine oder andere sich ein bisschen provoziert fühlt.
Können Sie schon einmal etwas davon verraten, ohne dass die Freunde deswegen in Ohnmacht fallen?
Na, so schlimm wird es dann auch wieder nicht! Ich will den Vorständen der Mitgliedsvereine vor den Sommerferien einen Workshop „Überlebenstraining für Gesangvereine“ anbieten. Da habe ich etwas ausgearbeitet, was in Teilen durchaus provokativ ist, und habe das auch schon einmal getestet – allerdings in Hessen, bei einem regionalen Sängerbund. Da waren um die hundert Teilnehmer, und es gab ungeheuer hitzige Diskussionen. Die einen waren total gegen das, was ich vorgeschlagen hatte, die anderen waren begeistert. Die haben sich fast die Köpfe eingeschlagen. Das will ich jetzt meinen Kollegen vorsetzen. Ich will versuchen, Bewegung reinzubringen durch Diskussionen, und ich will die Jugendarbeit forcieren – unter anderem durch Patenschaften. Ob das klappt, weiß ich noch nicht.
Was sind denn Ihrer Erfahrung nach Überlebensstrategien für Gesangvereine, die nicht funktionieren?
Alles, was nach einem Appell aussieht, funktioniert nicht. Ich halte nichts von Konzertprogrammen, wo auf der vierten Seite steht: „Sangesfreudige Damen und Herren sind herzlich willkommen.“ Das lockt keinen hinter dem Ofen vor. Wenn man öffentlich appelliert: „Wir brauchen ganz, ganz dringend Männer, die mitsingen“ – das bringt nichts, das vermittelt nur den Eindruck, man stehe kurz vor dem Untergang. Meine These ist: Es gibt nur einen richtig guten Werbeträger für einen Chor, und das ist der Chor selbst. Alles andere ist nur Beiwerk.
Wie kann der Chor sich aber so ins Bewusstsein bringen, dass es die breite Öffentlichkeit mitbekommt? Wer nicht ins Konzert geht, kriegt doch nichts von dem Chor mit.
Dann muss man Gelegenheiten suchen und sich anbieten – und dann aber auch gute Dinge machen, mit denen man es schafft, aus dem Publikum Verstärkung zu generieren. Nicht indem man sagt: „Wir sind toll“, sondern indem man das Publikum dazu bringt, zu sagen: „Mensch, ihr seid toll.“ Viele Chöre machen den Fehler, dass sie kleine Auftritte nicht sehr wichtig nehmen – als Nebensache, für die man in die Mottenkiste des Repertoires greift. Da hat man dann vielleicht das Glück, irgendwo aufzutreten, wo sogar auch jüngere Leute sind, und fängt mit „Ännchen von Tharau“ und „Im schönsten Wiesengrunde“ an. Das Schlimmste ist, wenn die Leute dann denken: „Hoffentlich sind die bald fertig.“ Ziel muss es sein, dass sie sagen: „Wow, das hätte ich gar nicht gedacht. Und ihr seid tatsächlich ein Gesangverein?“ Man kann Dinge pfiffig gestalten, auch wenn man ein kleinerer Chor ist oder ein höheres Durchschnittsalter hat. Ohne Ideen wird daraus allerdings nichts.
Sind die Chöre von dieser pfiffigen Gestaltung auch selbst begeistert?
Natürlich! Wenn der Chor nicht begeistert ist, wenn es nur harte Arbeit ist, dann bringt es nichts. Es gibt leider auch Chorleiter, die – beflügelt vom eigenen Ehrgeiz – ihren Chor überfordern, und das Ergebnis geht dann in die Hose. Sicher wird manches falsch gemacht und auch vieles verschlafen – auch beim Baden-Württembergischen Sängerbund. Es gibt ein paar Chöre, bei denen weiß ich nicht, ob sie noch sehr lange existieren. In den letzten Jahren haben bereits zwei aufgehört und sich aufgelöst.
Wie erhalten die Chöre aber die neuen Impulse? Schicken Sie Menschen in die Welt, die den Gesangvereinen Ihre Ideen näher bringen?
Nein, man kann das nur anbieten – es liegt aber einzig an den Chören selbst, an ihren Vorständen, ob sie sich darauf einlassen wollen oder ihr Ding weiterhin wie bisher durchziehen, mit den berühmten Argumenten „Haben wir schon immer so gemacht“, „Haben wir noch nie so gemacht“ oder „Da könnte ja jeder kommen“. Diese Argumente sind bei der Sängerlust seit langer Zeit absolut verboten. Und das hat uns dazu verholfen, manche Dinge auszuprobieren, die wir noch nie gemacht haben, und manches, was wir schon immer gemacht haben, bleiben zu lassen.
Mit guten Erfahrungen?
Sicher. Ein Gesangverein oder ein Chor muss immer kämpfen. Sobald man Erfolg hat, es einem ganz gut geht und man gut aufgestellt ist – das hat man bei der Sängerlust gemerkt -, gehen zwei Jahre ins Land, schon ist es wieder vorbei. Hat man einen Jugendchor, ist drei Jahre später die Hälfte der Sänger weg, weil sie studieren oder was anderes machen. Man muss immer von unten her für Nachschub sorgen, muss immer versuchen, sich etwas einfallen zu lassen.
In Deutschland gibt es rund 30 000 Chöre – im Prinzip sind wir doch nicht schlecht aufgestellt, oder?
Da ist eine ungeheure Vielfalt. Es läuft wirklich erstaunlich vieles. Vor allem im Norden Deutschlands laufen Dinge, da können wir hier im Südwesten Deutschlands nur davon träumen. In anderen Bundesländern gibt es tolle Qualitätschöre mit richtig hohem Niveau, die zum Teil an internationalen Wettbewerben teilnehmen, die singen in der obersten Liga. Alles Laienchöre wohlgemerkt. Da hinken wir in manchem noch etwas hinterher. Ein Beispiel: Was so ein richtig schwäbischer Chor ist, der mag es nicht, wenn der Chorleiter erst mal zehn Minuten Stimmübungen macht. Der meint: „Das ist schade um die Zeit, wir können ja schließlich singen.“ So was werden Sie nördlich der Mainlinie weniger finden. Da gehört es einfach dazu, zum Teil bis zu 30 Minuten Stimmbildung zu machen, bevor die eigentliche Probe beginnt. Wir waren schon bei Veranstaltungen mit mehreren anderen Chören, da habe ich gefragt: „Wo können wir uns einsingen?“, und habe zur Antwort gekriegt: „Was seid denn ihr für ein Chor? Wo gibt's denn so was? Ihr seid ja ganz schön eingebildet!“
Aber das ist doch keine Mentalitätsfrage, oder?
Ich weiß es nicht. Man darf das natürlich nicht verallgemeinern. Auch im Süden gibt es herausragende Chöre, und es gibt immer wieder Chorleiter, die sich einen Namen gemacht haben und über bestimmte Projekte Leute aus verschiedenen Chören zusammenbringen, bei denen dann tolle Sachen herauskommen. Die Sänger sind dann Leute, die eine Doppelbelastung auf sich nehmen, denn in ihren eigenen Chören dürfen sie natürlich auch nicht schwänzen.
Was halten Sie von Projektarbeit an sich?
Ich halte etwas davon, wenn es wirklich ein Projekt ist. Inzwischen gibt es aber viele Chöre, die alles zum Projekt erklären. Die machen nichts anderes als ihr Jahreskonzert, werben dafür, dass man mitmachen kann, ohne sich fest binden zu müssen, und hoffen, dass jemand dabei hängen bleibt. Projekt ist für mich etwas, das aus dem Rahmen fällt. Ich spiele auch mit dem Gedanken, innerhalb des Verbandes ein Projekt auf die Beine zu stellen, irgendetwas Außergewöhnliches. Es gab mal eines in Stuttgart zum Eisler-Jahr, das war ein ziemlicher Erfolg. So was würde ein einzelner Chor nie machen.
Wovon träumen Sie für Ihren Verband?
Da bin ich relativ bescheiden: Dass wir in relativ kurzer Zeit mindestens 35 Chöre werden – nicht indem wir dem anderen Sängerbund welche abwerben, sondern indem wir noch nicht organisierte Chöre dazugewinnen und unsere Profilvielfalt erweitern. Das eigene Profil ist für jeden Chor sehr wichtig, glaube ich. Es gibt zu viele traditionelle Gesangvereins-Chöre ohne Profil und mit austauschbarem Programm.
Was singen Sie selbst gerne?
Da bin ich wenig festgelegt. Aber am meisten Spaß machen mir schon Hits, Gospels, Musicals, ein bisschen Pop. Das traditionelle Liedgut liegt mir eher nicht.
Wie würden Sie folgenden Satz vervollständigen: Wer singt, der …
… hat mehr vom Leben!
Kornwestheimer Zeitung, 10.3.2007
Wir veröffentlichen das Interview hier mit freundlicher Genehmigung der Kornwestheimer Zeitung. Alle Rechte liegen bei der Kornwestheimer Zeitung.
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